Nein, Nein und nochmals Nein: Die Direktorin des altehrwürdigen Gymnasiums in Mostar verweigerte jedes Gespräch und auch einen Schulbesuch. Befehl von ganz oben. Und schon ist man mittendrin in den ungelösten Konflikten eines Landes, das seit drei Jahrzehnten den Frieden auf Basis eines faulen Kompromisses übt. Am Gymnasium wird dennoch die Zukunft erprobt. Nicht von oben, sondern von unten. Ein Recherchebericht.
Kantone gibt es nicht nur In der Schweiz. Auch Bosnien-Herzegowina kennt sie. Internationale Friedensvermittler hatten während des Bürgerkrieges in den Jahren 1992 – 1994 den Plan entwickelt, das tief zerrissene Land in Kantone aufzuteilen, die jeweils mit grosser Autonomie sich selbst regieren sollten. Niemand hatte eine bessere Idee. Und so kam es auf Druck der Amerikaner zum Dayton-Abkommen mit einer wohl klingenden, von den Kriegsparteien und Vertretern internationaler Organisationen unterzeichneten Verfassung. Dabei ist es bis heute geblieben. Ein besonderes heikles Thema war die Bildung gewesen. Man überliess sie den Kantonen, wo kaum jemand bereit war, seine Kinder die Schulbänke mit Kindern einer verfeindeten Ethnie zu teilen. Der Begriff „Ethnie“ war damals aufgekommen, um in einem weitgehend säkularisierten Land Menschen voneinander zu trennen, die bis auf Kleinigkeiten sich in der gleichen Sprache unterhielten, aber einer anderen Religion angehörten. In Städten wie Mostar waren es Nachbarn, die aufeinander schossen. So kam es zu getrennten Lehrplänen und getrennten Schulhäusern. Im Kanton Herzegowina-Neretva mit der Hauptstadt Mostar wagte man einige Jahre nach Kriegsende ein Experiment: Zwei Schulen unter einem Dach, mit einer gemeinsamen Verwaltung, aber nach Sprachen getrennten Klassen, gedacht als erster Schritt zu einer Wiedervereinigung der Schulen. Denn inzwischen war die „Muttersprache“ als Unterscheidungsmerkmal festgelegt worden. Dabei sind die Unterschiede zwischen bosnisch, kroatisch oder serbisch marginal. Das altehrwürdige, von den österreichisch-ungarischen Besatzern 1897 erbaute und nach dem Bürgerkrieg mit internationalem Geld wieder aufgebaute Gymnasium wurde zum Symbol dieses Willens, den Neuanfang zu wagen. Das war ein grosser Schritt in einer euphorischen Zeit. Dieser Prozess ist ins Stocken geraten. Auf den politischen Bühnen wird nur noch der Stillstand verwaltet. Das muss man wissen, um die harsche Reaktion der Schuldirektorin zu verstehen, als ich ihr gegenüber sass. Wochenlang waren meine Anfragen unbeantwortet geblieben. Sie hatte eine Übersetzerin organisiert, um mir unmissverständlich mitzuteilen, dass sie mir nicht erlauben werde, mit ihr oder mit Lehrern und Jugendlichen zu sprechen. Sie sprach von Schutz und einer ministeriellen Anordnung, die nach einem Vorfall erlassen wurde, bei dem ein kroatischer Jugendlicher mit rassistischen Ausfällen in einem Radiobeitrag einen Skandal ausgelöst hatte. Er sei am Gymnasium unterrichtet worden. Eine Recherche zeigte danach, dass dieser Jugendliche 2015 im Rahmen einer Serie von Radio Free Europe, einem von den Amerikanern finanzierten Sender, zur Stimmung in der bosnischen-herzegowinischen Jugend zitiert worden war. Allerdings war er an einem anderen Gymnasium. An den Pranger gestellt wurde der Sender, während niemand in der Stadt sich ans eigentliche Thema, den nach wie tobenden Krieg in den Köpfen, wagen wollte. Da war der Entscheid, gleich keine Journalisten mehr zuzulassen, nur konsequent: Auseinandersetzung sollte es, wenn überhaupt, nur hinter den Kulissen geben. Doch nicht alle sehen das am Gymnasium so. Die Direktorin verabschiedet sich mit einem Seufzer. Sie sei froh, bald in Pension zu gehen. Die so streng wirkende Frau wird von ihrer Kollegin Leila Juklo als sehr herzlicher Mensch beschrieben. Die Zusammenarbeit sei problemlos. Das ist kein Widerspruch. Die kroatische Direktorin folgt nur peinlich genau der Linie der von der kroatischen Partei HDZ vorgegebenen Schulpolitik. Die HDZ besetzt die wichtigen Posten im Bildungs-Ministerium, während die muslimische SDA die Oppositionsbank drückt. Und diese Politik sieht keinen Millimeter Spielraum vor, nicht nur, wenn es um Journalisten geht, die kritisch berichten könnten, sondern auch im Schulalltag.
Zwei Schulen unter einem Dach. Mehr auf keinen Fall. Der 21-jährige Dzan Dilberovic kann ein Lied davon singen. Er war von 2018 bis 2020 am Gymnasium. Mit Freunden hätte er gerne im Musikraum geprobt. Der kroatische Musiklehrer verweigerte den Schlüssel. Dilberovic ist Muslim. Und die strikte Trennung der Ethnien gilt sogar für den Musikunterricht. Der Fall ging in die Presse. Erst dann hatte er ein Einsehen. Lejla Juklo ist die stellvertretende Direktorin. Den Posten hat sie nur erhalten, weil sie Muslima ist. So will es die Regel. Das Gymnasium bevölkern zwei Schulen unter einem Dach. Es wird aber gemeinsam verwaltet. Und dazu gehört, dass die administrativen Führungspositionen abwechselnd von der jeweils anderen Ethnie besetzt werden. Juklo mag es gar nicht, auf ihren Glauben reduziert zu werden. Sie sei bosnische Staatsbürgerin. Dennoch wäre sie die designierte Nachfolgerin der bald pensionierten Direktorin. Sie zögert. Ihr fehle der Kontakt zu den Jugendlichen. Noch unterrichtet die Lehrerin der bosnischen Sprache ein paar Lektionen. Als Direktorin wäre es damit vorbei. Sie macht kein Hehl daraus, für wie absurd sie die Trennung der Klassen hält. Sicher, die Verfassung sehe es vor, dass jedes Kind in seiner Muttersprache unterrichtet werden. Daran wolle sie auch gar nicht rütteln. Auch bosnische Intellektuelle hatten in den 1990er-Jahren die Wiedereinführung der bosnischen Sprache verlangt, die einst als Vorlage für das Serbokroatische gedient hatte: die Nationalsprache des ehemaligen Jugoslawien. Doch im Schulalltag brauche es einfach mehr Toleranz. Ihr Zögern ist auch dem ständigen Aushandeln von Kompromissen mit der kroatischen Seite geschuldet,. Das kann mitunter bedeute, das man gemeinsam während der Projektwoche nach Kroatien reist, nur um dann getrennter Wege zu gehen. Jeder macht sein Ding. Manchmal fühle sie sich wie Don Quijote in seinem Kampf gegen Windmühlen. Mir kommt meine eigene Primarschulzeit in der st. gallischen Gemeinde Gossau in den frühen 1970er-Jahren Sinn. Es gab zwei Primarschulen, eine katholische und eine reformierte, und es gab die praktisch allein herrschende Christlich-Demokratische Volkspartei. Sie besetzte acht von neun Sitzen im Gemeinderat. Die Zeiten des Kulturkampfes, der vor allem im ausgehenden 19. Jahrhundert zwischen Liberalen und Konservativen getobt hatte und schliesslich in eine Machtteilung, die sogenannte Konkordanz mündete, waren eigentlich vorbei. Doch in Gossau war das anders. Die Primarschulen blieben bis 1977getrennt. Es gab nur die derben Fäkalwitze über die andere Konfession, die von Generation zu Generation weiterverbreitet worden waren. Und tatsächlich kann ich mich nicht erinnern, ausserhalb der Schule je einem katholischen Kind begegnet zu sein – mit Ausnahme des grossen Spielplatzes in der Siedlung, in der ich aufgewachsen bin. Die migrantischen Kinder aus Italien und Spanien in der Nachbarschaft waren sicherlich Katholiken. Doch das spielte überhaupt keine Rolle. Es wäre keinem eingefallen, den anderen zu fragen, welche Konfession er hat. Die Religion war Privatsache. Hundert Jahre oder vier Menschengeneration mussten verstreichen, bis in Gossau auch die letzten Kulturkämpfer ein Einsehen hatten und eine gemeinsame Primarschulgemeinde gründeten. Aus Kinderperspektive ist es in Bosnien-Herzegowina schon die vierte Generation, die sich in einer zementierten Welt zurechtfinden muss. Aus dieser Perspektive ist das Gymnasium Mostar ein Ort der Hoffnung, nicht nur, weil es gemeinsame Lektionen im Informatik-Unterricht gibt. Die Japaner, die den Computerraum finanziert hatten, bestanden darauf. Der Lehrer ist ein Serbe. Es sind die Schülerinnen und Schüler selbst, die, wie wir damals auf dem Spielplatz, die Regeln der Alten ignorieren. Der Kroate Armin und der Bosniake Luca spielen begeistert in einer Band an der Rockmusikschule in Mostar. Dort fragt niemand nach ihrer Ethnie oder ihrem Glauben. So wollten sie auch am Gymnasium eine Band gründen. Sie blitzten ab. So gibt es am Gymnasiums zwei Bands, die gelegentlich bei Schulanlässen gemeinsam auftreten, wohl auch, um den Schein zu wahren. Doch in Mostar gibt es auch mehrere Dutzend multiethnische Vereine und Organisationen. Sie sind der Tropfen, der den Stein höhlt.
Sajra, die 15-jährige Tochter von Lejla Jukic, ist nach den Sommerferien im Gymnasium eingetreten. Zuvor hat sie die Schulzeit, wie einst ich selbst bis zur 6. Klasse, ausschliesslich mit muslimischen Kindern verbracht. Im Sommer traf sie in einem Ferienprogramm für Jugendlich erstmals auf Kroaten, und ihr sei von Anfang klar gewesen: „Wir sind alle gleich.“ So hält sie es auch am Gymnasium. Ihr Freundeskreis hat sich erweitert. Ihr Vater kämpfte als 16-jährige im Krieg. Einmal verfehlte ihn die Kugel eines Scharfschützen um Haaresbreite. Natürlich könnte der Schütze der Vater eines Jugendlichen sein, dem sie an der Schule begegne. „Aber wir sind doch eine neue Generation, und wir alle haben eine zweite Chance verdient. Für uns geht es nicht mehr um Vergebung und Versöhnung. Denn wir tragen ja alle keine Schuld.“ Das mag angesichts der politischen Realität naiv anmuten. Dabei steckt eine grosse Weisheit darin: Es geht darum, die Zyklen der Gewalt, die die Menschen über Generationen gepeinigt haben, endlich zu durchbrechen. Ihre Mutter, die sich gerade mit den zwei Geographie-Lehrern darauf verständigt hat, gemeinsam Bäume zu pflanzen, meint nur, sie müsse in kleinen Schritten denken. „Aber ich bin sehr stolz, dass sich die Jugendlichen hier an der Schule begegnen und ihre Meinung ändern können.“ Ich erzähle Jasminka Bratic von Sajra. „Wenn das naiv ist, dann bin ich es auch.“ Die Anwältin engagiert sich seit bald drei Jahrzehnten für gemeinsame Schulen – bisher vergeblich. Manchmal komme ihr das alles vergeblich vor. Doch sie werde nicht aufgeben. „Ich bin und bleibe Idealistin.“ Und vielleicht ist es ja, wie im st. gallischen Kulturkampf, eine Jahrhundertaufgabe.
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